In den Steinen träumt der Frieden

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Mein neues Buch, dass ich in diesen Zeiten von Herz zu Herz teilen möchte. 

Leseprobe:

 

Zum Geleit

„Alle Wissenschaft jedoch ist Funktion der Seele, und alle Erkenntnis wurzelt in ihr. Sie ist das größte kosmische Wunder.“

C.G. Jung

Diese Geschichte von meiner Suche nach guten Wurzeln möchte einladen, in turbulenten Zeiten dort Halt zu finden, wo wir gehen und stehen: Auf dem naheliegendsten Grund, nämlich der Erde unter unseren Füßen. Wir müssen nicht um die halbe Welt reisen, um etwas zu finden, was uns Heil und Hoffnung verspricht. Es ist hier. In Europa gab es eine friedvolle Zivilisation, die mindestens 3500 Jahre lang Bestand hatte. Eine Kultur voll Wohlstand, Kunst, spiritueller Kraft und einem gesunden Sozialgefüge. Sie hat großartige Bauten hinterlassen, filigrane Kunst und eine komplexe Symbolik. In ihrem Zentrum stand eine Göttin. Die Magna Mater, die Große Mutter.

Dieses „Alte Europa“ findet kaum Erwähnung in den Geschichtslehren. Zu Unrecht. Es ist eine kulturhistorische Gedächtnislücke, die zu füllen uns zu einem gesunden europäischen oder überhaupt menschlichen Selbstverständnisses helfen kann. Darum habe ich diese Orte bereist, die alten Steine gesehen, gefühlt und mich von ihnen berühren lassen. Sie bezeugen und erzählen eine Geschichte des sesshaften Menschseins, in der nicht, wie später bei den alten Griechen, der Krieg der Vater, sondern der Frieden die Mutter aller Dinge gewesen ist. Gerufen von Ahnungen und Fügungen bin ich losgezogen, um auf dieser Reise mehr denn je den Wahnsinn der Normalität zu durchschauen, als auch das Wunder des Lebens zu erfahren.

Dieses Werk ist kein Sachbuch. Es ist die Erzählung einer ganz persönlichen Reise, gleichsam ein Tauchgang im kollektiven Unbewussten. Mit diesen Zeilen möchte ich weder lauwarme Heilsversprechen abliefern, noch versuchen Dinge in Stein zu meißeln, sprechen die Steine doch für sich. Wenn man dann die inneren Ohren spitzt, vermögen sie einem Jeden die Antworten raunen, die er oder sie fassen kann. Meine Sicht ist nicht mehr und nicht weniger als eine Inspiration, die von Herzen kommt. Ein bisweilen aberwitziger Glücksrittertrip, ein wahrhaft erfahrenes Märchen, das weitererzählt werden möchte.

 

 

Die dicke Frau im Pastinakenbeet

„Und immer fließt im Unterirdisch-Dunkeln der heilige Strom.

Es funkeln aus der Tiefe manchmal seine Töne.

Wer sie hört, fühlt ein Geheimnis walten,

sieht es fliehen, wünscht es festzuhalten,

brennt vor Heimweh, denn er ahnt das Schöne.“

Hermann Hesse

 

Eine unscheinbare Türe, irgendwo in einer Fassade, auf meinem ausgelatschten Pfad durchs Gestrüpp aus Beton. Mit einer Ahnung für das Zauberhafte pocht meine Hand gegen das Holz. Beim dritten Schlag öffnet sie sich. Kein Zimmer, kein Flur, nichts von menschlicher Struktur, stattdessen ein Felsspalt. Pfoten sind in die Erde gezeichnet, Krallen weisen den Weg. Eine Pforte, durch die sonst nur die Bären gehen. Ich folge der wilden Spur. Unwiderstehlich zieht sie mich in die Unterwelt hinein. Nichts als mein Atem begleitet mich in die Melodie den fallenden Tropfen. Ein Geisterlied in Stein gesungen. Das Rauschen der Welt über mir ist verstummt. Mein Gedankenradio hat keinen Empfang mehr, die betäubende Unruhe entweicht wie Dunst aus meinem Kopf. Es ist finster und doch, wie von fahlem Mondlicht durchdrungen, erschaue ich meinen Weg tiefer hinein in die Dunkelheit.

Die Räume weiten und verengen sich wie sie wollen, von jedweder menschgewollten Logik befreit. Schwarze Mäuler, Augen und Abgründe. Versprechungen und Drohungen. Ich gehe immer weiter, lasse mich locken pochenden Herzens, bis sich der Gang wieder verengt und der Fels von beiden Seiten gegen meine Schultern drückt. Angst kommt auf, nimmt mich in die Mangel. Trotzdem gehe ich weiter, bis die Spalte so schmal geworden ist, dass ich feststecke und mich nicht mehr bewegen kann. Doch da ist immer noch dieser Wille, der an mir zieht, der mich weiter treibt. Eine Neugier vielleicht vom Kopfe her, im Herzen eine gewisse Sehnsucht, die fordert, diesen unmöglichen Engpass zu überwinden. Innen wie Außen. Außen wie Innen. Träum ich oder wach ich?

Und dann geschieht das Wunder: Ich werde dünn wie ein Blatt Papier, streiche einer Feder gleich über den Stein. Es wird heller und immer heller und weiter, der Spalt wird wieder zum Gang, der Gang zu einer Kathedrale aus Wasser und Fels gegossen.

Ich bin in einer Höhle, die niemals die Sonne sah und doch wie aus sich selbst heraus leuchtet. Tropfsteine funkeln und glitzern, Versinterungen fließen in unendlicher Langsamkeit zum Formenspiel aller möglichen und unmöglichen Lebewesen, als befände ich mich im Bauch einer versteinerten Arche Noah. Die schlafenden Ideen eines großen Meisters, Prototypen, die in sich pulsierend darauf warten, von einem sehenden Auge wach geküsst zu werden, auf dass sie in die Welt hinaustreten mögen. Es ist die gigantische Vernissage des göttlichen Bildhauers, die Gebärmutter aller Lebensform, in tiefster Dunkelheit von innerem Licht durchglüht. Ich stehe da und staune, wundere mich und bete wortlos, so fremd, so einsam, so verbunden und daheim, so "Mutterseelenallein...", spricht es aus mir heraus und hallt von allen Gestalten wider.

„Mutterseelenallein.“

Zwischen allen Formen schwingender Klang, weltenwandelnder Gesang und ich fühle diese Wahrheit, ohne sie zu verstehen.

 

Das Schiffshorn dringt mir durch Mark und Bein. An die Reling gelehnt blicke ich über die schwarzen Wellen zu den schwindenden Lichtern des Hafens von Genua. Das Dröhnen des Fährmonsters webt den Klangteppich, auf dem ich über das Mittelmeer schwebe. „Mutterseelenallein“, hallt es in mir nach. Dieser Traum war so prägnant, so mystisch und doch so klar. Längst hat er begonnen sich aufzulösen, doch zeichne ich seine Konturen immer wieder neu in mein Gedächtnis. Meine Traumwelt ist vielfältig, oftmals wahllos wie das Flimmern des Fernsehers beim Zapping eines Dreijährigen. Doch manche Motive kehren wieder, immer wieder und können mit der Zeit zu einem Ruf des Lebens werden.

So sind mir meine Träume doch schon ein ums andere Mal zum Reiseführer geworden. Zeichen, Zufälle und Synchronizitäten zum Navigationssystem. Wie damals, als ich der Spur des Bären gefolgt bin. Kreuz und quer durch halb Europa, durch Städte und durch Wildnis, bis mein Traum in tiefer Nacht zum Leben erwachte und mir klar wurde, dass der Bär die ganze Fahrt über gewissermaßen schon in meinem Rucksack gesessen hatte. Nun also suche ich nach einer Glitzerhöhle, die mit ihm verwoben zu sein scheint. Und uralten Tempeln, einer Göttin und der Hoffnung, dass dieses Erdendrama doch noch irgendwie gut ausgehen möge.

Ein dreister Unwohlgeruch reißt mich aus meinen Gedanken. Mio, der Undercover-Wolf an meiner Seite, schaut mit eingeklappten Ohren auf den astronomischen Haufen, den er soeben aufs Deck gesetzt hat. Die Italiener, die vor der Türe stehen und rauchen, deuten hinüber und lachen. Regen setzt ein und ich zucke mit den Schultern. Was blieb ihm denn auch anderes übrig? Beton und Metall, etwas anderes hatte er heute den ganzen Tag nicht unter seinem Hintern.

Lisbeth kommt auf Händen um die Ecke gelaufen, die Füße in die Sterne gestreckt. Naserümpfend dreht sie sich um 180 Grad, holt Schaufel und Besen aus einer Ecke unter der Treppe und drückt sie mir in die Hand. Ich nehme, den bei genauerer Betrachtung recht kunstvoll drapierten Haufen auf die Schippe. Ja, ein letzter Gruß zurück nach Norden soll es sein: „Mach es gut, oh du kaltes und nasses Winter-Deutschland! Auf eine gute Reise. Wir fahren nach Palermo! Ahoi!“ Dann schleudere ich ihn über Bord. Kopfschüttelnd schaut Lisi mich an und zeigt nach unten. Ich werfe einen Blick über die Reling. Ein brauner Fleck ziert den Kiel eines der seitlich angebrachten Rettungsboote. „Scherben bringen Glück!“, rufe ich gegen den Wind. Und: „Aus Scheiße soll schon Gold geworden sein!”

Dana ist das alles egal. Die alte Lady hat sich längst zu einer sturmfesten Kugel zusammengerollt und sich in den Schlaf geschnarcht, wie sie es mittlerweile über zwanzig Stunden am Tag tut. Meine treue Begleiterin ist nun schon fast 17 Jahre alt. Viele Reisen hat die schwarz-weiß-braune Australian Shepherd-Hündin mit der vornehmen Nase mit mir unternommen. Gemeinsam haben wir Träume gejagt. Und bei so manch hartem Erwachen hat sie mich sanft aufgefangen. Auch dieses Mal ist sie wieder mit dabei. Vielleicht zum letzten Mal.

Ich wecke sie auf, während Lisbeth unseren Rucksack schultert. Wir halten die Luft an und wühlen uns durch die Tabakschlote. Von der hochbeinigen, kraftvollen Gestalt Mios beeindruckt bilden die Männer ein Spalier. Ein paar Treppen hinunter, dann über den roten Teppich durch endlos lange Korridore, vorbei an immer gleichen Türen, bis zu der Tür, deren Nummer auf unserem Schlüssel steht. Kajüte mit Meerblick. Ungewohnte Enge und Sterilität für zwei Naturfreaks wie Lisi und mich. Sofort rangeln wir uns und werfen uns gegenseitig auf die Betten. Mio und Dana stimmen mit Gebell ins kollektive Rudelausrasten ein, bis es von links und rechts gegen die Wände klopft. Zeit zum Schlafengehen. Es ist schon weit nach Mitternacht. Aus dem Deckelfach des Rucksacks hole ich die Figur der Pastinaken-Göttin und lege sie sorgsam auf den Nachttisch. Die heilige Ikone unserer Wallfahrt nach Malta...

 

Nun, wer mich kennt, der weiß, dass ich nicht nur gerne in den Tiefen des Unterbewusstseins, der Heimat der Träume, herumwühle, sondern auch dort, wo die Würmer wohnen, nämlich im Erdreich, bin ich doch leidenschaftlicher Gärtner. Und außer Würmern, Springschwänzen und Wühlmäusen habe ich dort schon so manch seltsames Geschöpf zu Tage befördert. Zu meinen bedeutendsten Funden zählen zwei uralte Gartenzwerge, eine Elfe mit abgebrochenen Flügeln und ein Miniatur-Brontosaurus. Außerdem auch der Original-Oberschenkelknochen eines Wichtels (I believe!). Das aber wohl Wundersamste, was ich jemals fand, winkte mir mit dem Zaunpfahl, mich auf diese Reise zu begeben, auch wenn ich das erst sehr viel später realisieren sollte.

Es begab sich also bei der Pastinakenernte. Mit Schweißperlen auf der Stirne zog ich an einer monströsen Rübe. Ich rüttelte und wackelte, um Mutter Erde diesen überfälligen Zahn zu ziehen. Endlich gab sie ihn frei, ich setzte mich auf den Hintern und entdeckte einen kreisrunden Stein, der mit der Wurzel zum Vorschein gekommen war. Ich griff nach ihm, hob ihn auf und fand eine breithinterig, dickbäuchig und großbusig darnieder liegende Frau in der Hand. Splitterfasernackt! Ich wunderte mich doch sehr. Was sollte das denn sein? Der im Garten entsorgte Fetisch eines Ex-Bewohners meiner Landkommune? Was Besseres fiel mir zunächst nicht ein und so war mein Verhältnis zu der Dame zunächst auch eher distanziert. Ich nahm sie also nicht mit auf mein Zimmer, sondern platzierte sie im Kräutergarten auf einem Stück Birkenholz unter dem Ahorn. So fristete sie nach ihrer Ausgrabung ein weiteres dreijähriges Schattendasein, bis sie während einer meiner Kräuterwanderungen endlich wachgeküsst wurde.

Ein Großmütterchen, gerade mal anderthalb Meter groß mit runder Brille und dickem Flechtzopf entdeckte sie zwischen Frauenmantel, Waldmeister und Tollkirsche.

„Das ist ja die Venus von Willendorf!“, rief sie verrückt.

„Bitte wer?“

„Na die Venus von Willendorf, die die steinzeitlichen Jäger und Sammler vor über zwanzigtausend Jahren in einer Höhle hinterlegt haben.“

„Äh, nein. Die war in unserem Gemüsebeet verbuddelt.“

„Aber das ist doch nur eine Nachbildung. Das Original ist natürlich im Museum.“

Ich dachte kurz nach.

„Okay. Und warum hat Fred Feuerstein überhaupt so eine dicke Dame mit sich herumgeschleppt?“

„Aber das ist doch die alte Göttin!“

Ich hatte mich nie wirklich mit Steinzeitkulten beschäftigt. Ich wusste einigermaßen gut Bescheid über die Kelten und Germanen, bevor die imperialistischen Römer kamen, doch weiter zurück wähnte ich nur Wildnis, die sich im grauen Nebel verlor. Eine mythologische Vorzeit voller Götter und Riesen, oder eben Fred Feuerstein und Barney Geröllheimer, ganz wie man möchte.

Nachdem die Leute nach Hause gegangen waren, kehrte ich nochmal unter den Ahorn zurück und nahm mich der großen Unbekannten an, bevor sie erneut in der Erde versinken konnte. Liebevoll kratzte ich ihr die Vogelkacke vom Bauch und das Moos vom Hintern und nahm sie bei mir auf. Zwei weitere Jahre reifte sie auf einem Regal neben einem Zunderschwamm, einem abgebrochenen Tropfstein und dem Stachelkleid eines Igels. Nichts weiter tat sie da als Staub zu fressen, bis ihre Zeit gekommen war, auf große Fahrt zu gehen...

 

Noch viel zu aufgedreht zum Einschlafen, drehe ich mich in meiner Koje hin und her, bis ich endlich aufstehe und leise die Tür hinter mir schließe. Wie ein Schlafwandler geistere ich durch das menschenleere Schiff. Der Mann an der Rezeption schnarcht in seinem Stuhl und sabbert sich aufs frisch gebügelte Hemd. Der Parfümshop stinkt vor sich hin, während in der Kinderecke ein publikumsloser Walt-Disney-Film hohl dreht. Spielautomaten blinken und dudeln wie Insektenfallen, um Motten anzulocken, denen sie in diesen schwammigen Stunden das Geld aus der Tasche saugen können. Wankenden Schrittes folge ich den Gängen bis ins Bug, wo mich Treppen durch ein über mehrere Terrassen abfallendes Café führen. Weitere Nachtschwärmer hängen verstreut auf den Sofas herum, starren auf ihr Handy oder aber auf die riesige Leinwand, die vor die Glasfront gespannt ist und so den Blick hinaus aufs Meer verbaut. Nur hier und da blitzt die wilde See im Scheinwerferlicht der Fähre hindurch wie eine andere Wirklichkeit. Ich bleibe vor der Bar stehen und eine Makrele mit Krawatte schaut mich fragend an, woraufhin ich mir aus Verlegenheit ein Bier bestelle. Mit etwas Loungemusik und Meeresblick könnte mir das Ambiente recht wohl taugen, doch zwischen den Wellen und mir stehen 25 Quadratmeter Spaghettikochwettbewerb. Ich setze mich in den Sessel am äußersten linken Rand ganz unten, sodass ich an der Leinwand vorbei durch das trübe Glas wenigstens einen Hauch von Meer erhaschen kann. Das Brummen der Dieselmotoren verkommt in meinen Gehörgängen zu einer hypnotischen Dröhnung und das Kochshow-Italienisch zu surrealen Beschwörungsformeln, die mir langsam, aber sicher den Boden unter den Füßen entgleiten lassen. Bald drifte ich ab ins Niemandsland und verschwimme in der Brandung zwischen Tag und Traum.

Ich sehe den kleinen Jungen durch das „Wäldchen“ streifen. Das Wäldchen war eine Holunder- und Scheinrobinienhecke, die auf den alten Weinkellern meines Heimatdorfes Dittelsheim wucherte. Ein vergessener Flecken, ein Atoll in der seichten Normalität, die sich dem Zugriff der Schubladendenkerei entzogen hatte. Beim Blick in die finsteren Löcher der aus den Kellern ragenden Lüftungsschächte, mischten sich Furcht und Faszination in meinem kindlichen Herzen.

„Da wohnt eine Hexe drin!“ hatte die Tochter des Pfarrers einmal gesagt.

„Aber vielleicht ist dort auch ein Schatz versteckt!“

„Was für ein Schatz denn?“

„Na die Silberglocke, von der der alte Herr Spieserzählt hat, und der kennt die Dorfgeschichte wie kein anderer. Die Leute hatten sie im ersten Weltkrieg versteckt, damit sie nicht von den Feinden gestohlen wurde.“

„Der alte Spies trinkt zu viel Wein hat Frau Weber gesagt. Pass lieber auf! Die Hexe sieht dich, wenn du da hineinguckst und dann kommt sie nachts zu dir...“

Wie diese Hexe wohl aussieht? Wie bei Hänsel und Gretel? Buckelig, warzig, alt und boshaft? Oder doch eher dunkelschön, wie eine Schwarzalben-Fee? Was war das für ein Geheimnis, das in der Erde auf mich zu warten schien? In dieser Höhle, von der ich träumte, solange ich mich erinnern kann, wie oft hatte ich nach ihrem Eingang gesucht! In den verwilderten Oasen der rheinhessischen Weinwüste, oder in dem verlassenen Haus der Witwe Deheck, in das ich heimlich einstieg. Der Hausrat von der schon vor Jahren Verstorbenen stand herum, als wäre sie noch immer hier. Spinnweben und Staub verrieten lediglich, dass sie sich nicht mehr um die Gepflogenheiten unserer Welt scherte. Die Zeit in diesen Räumen war dem Stillstand nahe. Ich öffnete Schubladen, fand Hunderttausende von Reichsmark, alte Briefe und eine stehengebliebene Uhr. Alles Schätze, die mir nichts zu sagen hatten. Ablenkungen, Trostpreise auf dem Weg zum wahren Wert. Mir ging es nur um diesen geheimen Eingang und wo sonst sollte er sein als an der unheimlichsten Stelle eines Geisterhauses?

Ich öffnete die Kellerluke, knipste das erbärmliche Lämpchen an meinem Laternenstab an und stieg die morschen Holzstufen hinab. Der Putz fiel von den Wänden, wann immer ich sie berührte. Moder und Schimmel ließen mich schwindelig werden. In meiner Brust trommelten Angst und Neugier um die Wette. Jeden Moment konnten mich die knöchernen Finger der Witwe Deheck, die doch noch immer irgendwie hier war, packen und mich zu Tode erschrecken. Und doch ich musste weitergehen, denn mir war es bestimmt ein Entdecker zu sein, ein von der Welt verkannter Abenteurer, dem sein Heldenmut nicht auf die schmale Brust geschrieben stand, sondern dort weilte, wo ihn niemand vermutete. Ein Geheimagent, ein Tarnkappenträger, dem man gehörig den Arsch versohlen würde, wenn man ihn beim Einbrechen erwischen würde. So lauerte die Gefahr also auf beiden Seiten der Wirklichkeit. Als Leiche im Keller und als erzieherische Konsequenz auf dem Boden der Tatsachen.

Ich schlich über den gestampften Lehm, vorbei an der mit Schimmel überzogenen Kartoffelkiste, als hätte es hier unten geschneit. In den morschen Regalen fand ich Einweckgläser voller Stachelbeeren, in deren Vakuum die Sonnenreife von vor Jahrzehnten bewahrt wurde. Angehaltene Zeit, eingefrorene Gegenwart, nichts könnte mir toter erscheinen. Gehütete Schätze, die ihre Bedeutung verloren hatten. Mir wurde so gottverlassen einsam im Herzen. Ich leuchtete in alle Ecken des Kellers. Da waren auch noch ein paar Gummistiefel, nebenbei abgestreift, ein unerkanntes letztes Mal, irgendwann. Es schnürte mir die Kehle zu. Nein, hier war nichts mehr lebendig. Ein mausetoter Winkel, eine Sackgasse. Dead End. Nicht mal ein Gespenst mochte hier mehr existieren. Aus meinem tiefsten Innern heraus riss es mich herum, ich stürmte die Treppe hoch, hörte Stufen hinter mir brechen und knallte die Luke zu. Meines Heldengewandes entledigt rannte ich aus dem Haus und ich dachte nicht mehr daran, was die Nachbarn denken könnten.

„Was macht dann de Siry do schunn widder?“, brüllte es hinter mir.

Ein anders Mal versuchte ich den Spiegelschrank in der fensterlosen Garderobe meines Elternhauses beiseite zu rücken. Der Junge im Spiegel des Schuhschrankes, der aussah wie ich, hatte mir ein Zeichen gegeben. Schon oft hatte ich versucht, ihn auszutricksen, schneller zu sein, überraschende Bewegungen auszuführen, mit denen er nicht mithalten konnte. Nie war es mir gelungen, doch dieses Mal hatte er mir aus freien Stücken blitzschnell zugezwinkert. Natürlich sollte es eine Einladung sein, ihm in seine Welt zu folgen. Hinter dem Spiegel, dort wo meine aufhörte, müsste sie beginnen. Doch Glas blieb Glas und Realität Realität, bis ich auf die Idee kam, den Schuhschrank ein Stückchen zu verschieben. Es war ein schwerer Brocken, nicht nur mit Schuhen, sondern auch mit Marmeladengläsern, Fischbüchsen und geheimen Süßigkeitendepots vollgestopft. Ich beschwor meinen inneren Herkules, mir in die Ärmchen zu fahren und schließlich konnte ich eine Lücke aufreißen, in die ich gerade so meinen Kopf quetschen konnte. Kein Licht fiel in den Spalt, doch hart an den Schrank gepresst tastete ich ins Dunkle. Ich fühlte nichts als feuchte Tapete.

„Was schaffschd du dann do?“

Die Stimme meiner Mutter. Wieder holte mich die altangestammte Wirklichkeit ein. Es gab kein Entkommen. Freilich verriet ich das Zwinkern meines Spiegel-Ichs nicht und auch sonst habe ich nie jemandem von diesen Träumen und den damit verbundenen Expeditionen erzählt. Ich war vernünftig und bodenständig genug zu wissen, dass die sogenannten Erwachsenen niemals hinter den Spiegel schauen würden, dass sie Kraft ihres gesunden Menschenverstandes meine Durchbruchsversuche als Spinnerei abtun und sich eventuell sogar Sorgen um mich machen würden. Träume sind Schäume. Die Realität hingegen unverrückbar und ihr Boden hart, wenn man drauf zurückgeworfen wird. Als Kind aber war mir dieses wichtigtuerische R-Wort zutiefst unsympathisch. Es war mir wie ein scharfes Messer, das die Welt in Fetzen schnitt, sie klein redete, begrenzte, ausschließlich machte. Ihr ohrenbetäubender Alleingültigkeitsanspruch blies mir und meinen Freunden entgegen, bis die wilden Traumwelten hinter uns zu Seifenblasen geschrumpft davontrieben. Doch ich wollte der Rebell sein. Der letzte Mohikaner meinetwegen und hielt fest am Unfassbaren. Dort wähnte ich meinen Ursprung und ich war entschlossen ihn zu wahren. Von dort war ich aufgebrochen, wie alle Kinder und deshalb erinnern sie sich in den ersten Jahren auch noch sehr gut an diese Welt, während die Nebelwand immer dichter, schleierhaft und schließlich unbewusst wird, wie die Träume, wenn man morgens aufwacht.

Irgendwann, es muss wohl nach der Grundschule auf der geistigen Streckbank des Gymnasiums gewesen sein, wo man mir die Ohren langzog, um immer mehr schwarzweiß in meinen Kopf zu trichtern, habe ich aufgehört, nach diesem Eingang zu suchen. Ich weiß gar nicht, ob ich in diesen schwierigen Jahren, als ich durch sämtliche Instanzen des Schulsystems geprügelt wurde, überhaupt noch irgendetwas geträumt habe. Das Paradigma des Normalverbrauchers wurde mir tagein tagaus in den Rachen gestopft. Ich wehrte mich nach Herzenskräften, doch die Übermacht war erdrückend, aussichtslos erschien mein Kampf. Oft war es mir, als wäre ich nicht von dieser Welt. Ein Missgeschick des Klapperstorches auf seinem interstellaren Fahrrad, der mich auf seinem Weg in eine andere Galaxie nach massivem Raketenbeschuss auf die Erde hatte fallen lassen. Ein Planet, auf dem eine Kolonie wahnsinnig gewordener Primaten den Baum, auf dem sie sitzen, verheizen und sich dabei als Krone der Schöpfung selbst feiern. Fortan war ich also hier inkarniert und gewissermaßen auch inhaftiert.

Ja, ich war oft verzweifelt und wäre ein ums andere Mal gerne zu den Freunden dieser Realität übergelaufen, einfach nur um nicht allein im Dreck spielen zu müssen. Doch keine Mühe und kein noch so guter Vorsatz blieb von Dauer, denn da blieb ja immer noch dieses Andere gegenwärtig. Es bewegte sich im Schatten des Windes, am äußersten Rande des Augenwinkels und im Flackern von Geistesblitzen, die bisweilen aus heiterem Himmel auf den Grund meines Daseins einschlugen. Diese geheime Kraft sorgte dafür, dass ich nie ganz verloren gehen konnte. Sie half mir mit verzauberten Wegweisern, erneut zu verwunschenen Orten zu finden. Nun waren es von Efeu und Sagen umrankte Burgruinen, Keltenplätze und wilde Wälder. Zeichen und Wunder fügten die Puzzleteile meiner Wirklichkeit so zusammen, dass sich meine Pfade glücklich verschränkten. So fand ich meinen Weg querfeldein. Mit der Zeit und der Erfahrung dieses Weges, wurde er mir so vertraut, wie für die Kraniche ihr Zug nach Süden oder wie für die Kröten der Weg heim zu ihrem Teich. Das alltägliche Grau(en) der Normalität verlor mehr und mehr von seiner Wirkmacht. Ich ließ mich nicht mehr runterziehen und schlechtreden. Diese „vernünftige“ Realität der Umweltzerstörung und Ungleichheit widersprach sich an allen Ecken und Enden selbst.

Wahrhaftigkeit hingegen fand ich in der Natur. So tanzte ich mit Glühwürmchen durch Mittsommernächte, trommelte mit Waldschraten ums Feuer und badete nackt mit Elfen in Bergflüssen. Ich war nicht mehr normal, war es nie gewesen und wollte es niemals sein. Ich fand Artgenossen, die mit bunten Fahnen den Winden folgten, um die Welt ein klein wenig besser zu träumen.

 

Mein Herzenskompass weist nun zu Horizonten, die mein Verstand in ihrer Weite und Gänze nicht überblicken kann. Er ist dann mit an Bord wie ein blinder Passagier, der bestenfalls nur dann redet, wenn er gefragt wird. Dann kann er durchaus nützlich sein, zum Beispiel um mir die Fähre nach Palermo zu buchen, in deren Bauch gerade der über vierzig Jahre alte Mercedes-Opa Paule parkt. Eine gesattelte Schildkröte, mit wohnlichem Häuschen auf dem Rücken, bereit, uns quer durch Sizilien zu tragen, um dann nach Malta überzusetzen. Und ja, vielleicht liegt ja dort der Eingang zur erträumten Zauberhöhle.

In mir zusammengereimt hat sich dieser Verdacht im letzten Dezember, während der Raunächte. Zukünftiges soll sich in den Visionen jener Nächte offenbaren, für den, der es glaubt und dementsprechend auf Empfang ist. An einem dieser Abende sah ich mir mit meinem kleinen Sohn Noah eine Gute Nacht-Folge „Janoschs Traumstunde“ an. Mit Schnuddel, Kaspermütze und dem Löwen mit der blauen Hose. Noah schlief alsbald ein und unwillkürlich folgte ich ihm ins Reich der Träume, wo ich wieder einmal vor dieser Höhle stand, deren Eingang sich mitten in unserem Gemüsebeet geöffnet hatte. „Er ist ja so naheliegend!“, dachte ich bei mir im Traume, wurde jedoch im selben Moment wach, ohne sie betreten zu haben. Doch war ich mir nicht ganz sicher, ob ich träumte oder wachte, denn da war nun meine Steinzeit-Venus aus dem Pastinakenbeet auf dem Bildschirm meines Laptops zu sehen! Mehr Figurinen wurden eingeblendet und dann sah ich etwas, das mir völlig unwirklich feuchte Augen machte: Gigantische runde Bauten aus Megalithen, die wie steinerne Kleeblätter in sonnendurchfluteter Landschaft standen. Die Tempel von Malta. Dort waren jene Figurinen, die meiner so sehr ähnelten, gefunden worden. Auf dieser winzigen Mittelmeerinsel!

Hat jener Geheimniskrämer, der meinen inneren Kompass kalibriert, denn auch Macht über die Algorithmen, die aus diesem Blendwerkskasten zu mir sprechen? Bedient sich die GI, die göttliche Intelligenz, tatsächlich sich dieser KI, um mich hinter dem Ofen hervorzulocken?

Da war die Rede von einer verschwundenen Zivilisation, die auf diesem unseren Kontinent einstmals vor sich hin blühte, ehe das Wort Europa überhaupt erfunden worden war und von der meine damaligen Geschichtslehrer vielleicht noch nie gehört hatten.

Von nun an brannte eine Flamme in mir und mit ihr entzündete ich die Fackel, welche mir den Weg ins Dunkel der Höhle zeigen soll. Denn ich erahne, dass die Tempel der Göttin mit ihr zusammenhängen. Und was auch immer ich dort zu suchen habe, es wird mich finden. Hinter dem Glas jenseits des schwarzen Wassers, am anderen Ufer des Meeres.

 

Wieder folge ich der Spur des Bären. Diesmal führt sie über einen einsamen Sandstrand. Was will dieses Tier des Waldes hier? Möwen kreischen. Das ist nicht sein Revier, dennoch folge ich seinen Tatzen. Zum Felsen. Steil, kühn und schroff. Ein Spalt klafft in der Wand. Dunkel. Die Berge darüber. Klippen wie gewaltige Schenkel, die sich links und rechts der Höhle ins Meer stürzen. Wie ein gewaltiger Schoß. Der Bär ist darin verschwunden. Knochen liegen vor meinen Füßen. Bienen schwirren über dem Eingang in die Tiefe. Ich sehe Vögel an Käfigen rütteln. Menschengesichter, mal lachend und strahlend, mal hässliche Fratzen. Sie tauchen auf und platzen wie Seifenblasen. Mio ist hinter mir und Dana, die alte Dana, ist mir schon vorausgegangen. Lisbeth winkt mir zu, sie ist auf ihrem eigenen Weg unterwegs dorthin. Ein Gesang wie von Sirenen. Eine Zauberin oder eine Fee erscheint im Mond am helllichten Tag. Sie lächelt mich an. Spöttisch und gütig, kindlich und weise.

Ich schrecke auf, als mir das kalte Bier in den Schritt sickert. Wo bin ich? Die Raumschiffkulisse um mich herum ist mindestens so unwirklich wie meine Höhlenträume. Ja, ich bin auf der Fähre nach Palermo. Auf meiner Traumreise. Ich habe damals den Bären gesucht und nun ist es die Höhle, in der er im Herbst verschwindet, um im Frühling mit neuem Leben wieder daraus hervorzutreten. Vielleicht schläft er dort Seite an Seite mit der Göttin. Und vielleicht träumt die Göttin dort von der Zeit, als sie auf Erden weilte.