Sind wir nicht Teil der Lösung, so sind wir Teil des Problems.
Manitonquat, Wampanoag Ältester
Auf einem Hügel vor Alicante, 31.12.2024
Vor meinem Fenster entfalten sich beinahe jeden Tag neue Aussichten. Mal ist es die Weite des Meeres und des Himmels und ihr Zerfließen in der Melodie der blauen Töne. Mal sind es graue Olivenstämme und das verschworene Geflüster ihrer Blätter. Manchmal auch der drückende Schatten einer Felswand. Heute dürfen es karge Hügel sein, die sich hinab in die Ebene entrollen. Verstreute Häuser zwischen Pinien und Rosmarin, immer kleiner werdend, dabei zahlreicher, bis sie zu einer unüberschaubaren Masse geronnen sind. Da unten vor der Küste liegt Alicante, irgend so eine Stadt am Mittelmeer, über die ich nicht mehr weiß als ihren Namen. So einzigartig und doch verwechselbar wie die vielen, vielen anderen Städte. An den Küsten, an den Flüssen. Überall dort, wo in grauer Vorzeit ein paar Menschen sich niederließen, weil die Lebensbedingungen gut waren. Sie kamen an, fanden guten Boden, Trinkwasser und genügend Nahrung. Das Land war fruchtbar. Die Menschen waren fruchtbar und so mehrten sie sich. Lange Zeit blieben sie der natürlichen Ordnung unterworfen, wie jede andere Lebensform dieser Erde selbstverständlich auch. Sie waren Teil der großen Gemeinschaft. Der allumfassenden Symbiose des Superorganismus, dem sie den Namen Erde gaben. So lebten und so starben sie im Rhythmus von Sonne und Mond.
Was wirklich zählte war nicht die persönliche Karriere. Die Selbstentfaltung nur um seiner selbst willen. Was zählte war der Fortbestand des Stammes. Die Selbstverwirklichung ging einher mit dem Wohl des Ganzen. Und da dieses Ganze nicht abgegrenzt von einer 'Umwelt' war, floss dieses Wir-Gefühl über die Grenzen des Dorfes über auf die Felder und in die Wildnis. Der Fluss war ein Teil dieses Wir, genauso wie jeder erlegte Hase, aber auch wie der Fuchs, wenn der mal wieder schlauer war als alle anderen.
Auch in diesen Zeiten wurde gelitten und gestorben. Dörfer konnten niederbrennen oder überflutet werden. Menschen konnten sich verletzen und sterben, bevor sie alt und grau geworden waren.
Ja, sie konnten sterben. Sterben in der Annahme Teil von etwas Größerem als sie selbst zu sein. Dabei mit ihrem Selbst wohl geborgen im Ein- und Ausatmen der Erde. Im Geben und Nehmen. Im Geborenwerden und im Sterben. Wellen im Flüstern der Gezeiten.
Aber wer bin ich, dass ich das behaupten kann? Wie komme ich dazu? Ich lebe heute, wo aus dem kleinen Dorf, in dem jeder jeden kannte, ein gewaltiges Betonmonster geworden ist, von Anonymität durchdrungen. Wo ich in einer Kutsche aus Stahl, Gummi und Plastik herumfahre, Dreck in die Luft blase und meinen Fisch aus der Tiefkühltruhe im Supermarkt angele.
Ich bin ein Träumer. Ein Spinner. Ein Narr. Einer der sich nach Verbundenheit sehnt, weil er sich irgendwo in den Tiefen seiner Zellen ihrer erinnert. Weil er in seinem Inneren spürt, dass dieser Welt eine natürliche Ordnung innewohnt, die es gut mit uns meint. Die es aber nicht nur gut mit uns, sondern die es gut mit Allem meint. Derer jedes Geschöpf wert und heilig ist. Wenn ich durch die wilden Landschaften fahre, sehe ich sie versklavt. Wie Ketten sind Straßen über sie geworfen. Tunnel durchbohren die Berge. Die Erde ist mit Beton geknebelt. Zäune, Masten und Stromleitungen hindern die Seele beim Fliegen. Da, wo von Natur aus alles rund und nichts im rechten Winkel geschieht, sind Linien und Ecken installiert. Der Mantel der Nacht ist durchlöchert. Überall scheinen Lichter, die die Sterne verblassen lassen.
Die Erde scheint mir wie ein Baum, der von nimmersatten Raupen befallen ist. Oder wie eine Lunge, die vom Rauch zugeteert wird. Die Raupen aber feiern sich selbst, als wären sie Außerirdische. Als wären sie nicht Teil dieses Baumes. Als könnten sie auch ohne ihn leben. Als wäre er nicht die Welt. Als wäre er bloß eine Umwelt und sie der Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Und während sie anderes Getier Ungeziefer schimpfen, sind sie es selbst, die alles verdrehen und ins Chaos stürzen. Sie bauen einen Turm Richtung Himmel, indem sie noch immer ein Abbild ihrer Selbst auf dem Thron wähnen, feiern sich dabei und einer steigt dem anderen aufs Dach, bis die Schwarte kracht. Wachstum, Wachstum, Wachstum!
Ich lese gerade das Buch eines alten Indianers. Manitonquat. Ein Wampanoag, den ich 2004 in Portugal kennenlernen durfte. Mittlerweile ist er verstorben, seine Worte aber hallen weiter.
„Wenn wir nicht Teil der Heilung sind, sind wir Teil der Krankheit.“
Dieser Satz begleitet mich seit den frühen Morgenstunden. Mit dem Blick aus meiner rollenden Blechzelle über die wunderschöne und zugleich so arg befallene Landschaft. Wir Menschen sind nahezu überall. Nehmen alles in Beschlag, wo es irgendwas zu holen gibt. Der Wahnsinn ist zur Normalität geworden und alles was nicht normal ist, wird als Phantasterei abgetan. Der Mensch dreht die Erde auf links. Und ich bin auch einer. Was soll nur werden?
Die Sonne schiebt die Wolken zur Seite. Die Berge stehen gelassen herum. Sie können warten. Alles ist in ständiger Entwicklung. Überall in der Erde arbeiten Milliarden von Mikroorganismen am allgegenwärtigen Transformationsprozess. In uns leben ebenfalls Milliarden von Mikroorganismen. Wir sind wandelnde Ökosysteme. Viele von uns genauso durcheinander wie der Erdorganismus, auf dem wir gehen und stehen. Innen wie Außen. Außen wie Innen. Die Welt von oben betrachtet ist der Spiegel der kollektiven Geistesverfassung der Menschheit.
Noch immer gibt es intakte Biotope. Noch immer gibt es Inseln der Artenvielfalt. Da draußen. In uns drinnen und mitten unter uns. Wir wissen, dass Ökosysteme sich selbst regulieren können. Wir können auch an ihnen herumschrauben, ihnen und uns auf die Sprünge helfen, mit Renaturierungsmaßnahmen. Mit Selbstoptimierungsprozessen. Aber könnte es dabei nicht sein, dass das Ei schon wieder klüger sein will als die Henne? Das Menschlein als die Erdmutter? Können wir wirklich willentlich in Ordnung bringen, was wir willentlich in Unordnung gebracht haben? Kann ein Problem mit der gleichen Denkart gelöst werden, aus der es entstanden ist? Einstein glaubte das nicht.
Fünfzig Meter unterhalb von mir bröckelt eine Ruine vor sich hin. Da wachsen Mauerblümchen, da huschen Eidechsen. Vor nicht allzu langer Zeit war sie noch ein stolzes Haus. Mehr und mehr wird sie nun wieder Teil der Landschaft. Auch Alicante wird es so ergehen. Es ist keine Frage ob, sondern nur eine Frage wann. Für die Berge kaum relevant. Die Erde hat einen langen Atem. Fragt doch nur den Wind!
Ein paar Hasen hoppeln durch den Rosmarin. Ein Rotschwänzchen sitzt auf dem Zaunpfahl. Es tut mir leid. Am Ende dieser Zeilen habe ich keine gute Medizin im Angebot. Keine Allheil- Pille im Repertoire. Nicht für die Welt, noch nicht mal für mich selbst.
Nur diese Geschichte habe ich zu teilen. Geschrieben von meiner Sehnsucht. Der Sehnsucht dazuzugehören. Teil zu sein. Teil der Landschaft. Teil der Erde. Teil der Heilung.
Und die Hoffnung, die sich wie ein grünes Band zwischen diesen Zeilen webt, dass genau diese Sehnsucht es sein könnte, die uns nach Hause führt.
Jano
Kommentar hinzufügen
Kommentare