Dunkel. Einsam. Gefährlich. Wunderschön. Über eine meiner Höhlenerfahrungen.
El Marchalico- Vinicas, ein verlassenes Dorf in Südspanien, Januar 2025
Zikaden singen das Lied der Sonne. Über den dürren Sträuchern riecht es nach Süden. Thymian, Andorn fast wie Weihrauch und andere, mir unbekannte Duftnoten zaubern Musik in meine Nase. Ruinen träumen ihrem Verfall entgegen. Eingestürzte Dächer, überwucherte Mauern, vergessener Dorfklatsch. Weit unten im Tal kriechen LKWs die Ameisenstraße entlang. Ihr fernes Heulen legt sich gleichförmig unter das Lied der Zikaden. Ein Flugzeug zieht einen Strich über den Himmel.
Ich drehe mich um und vor mir liegt das Tor zu einer anderen Welt, die von all dem hier draußen nichts weiß. Die älter ist als alles, was dem Reich der Sonne und des Windes angehört. Zumindest so, wie der Mensch sie erfährt. Es liegt in den Schatten zwischen den großen Felsblöcken. Wahllos zerstreut liegen sie, als hätte ein Riese gewürfelt. Lautlos gleite ich zwischen sie, werde Teil des Schattens. Ziehe den Kopf ein, presse mich durch eine Lücke, klettere über zwei Blöcke und höre Stille. Spüre meinen Herzschlag. Hinter mir die Welt ein langsam schwindendes Licht. Noch ein paar Schritte und es ist stockdunkel. Ich verharrte. Koste diesen Moment ganz bewusst. Nun höre ich auch das Plätschern. Ganz leise. Gemurmel. Die Stimme der Cueva. Ich schalte meine Stirnlampe an. Es geht noch ein Stück aufwärts. Durch den schmalen Schlund. Dann bin ich vollends eingetaucht. Der Boden wird ebener. Ein Gang. Ein Gang, der sich dreht und wendet, wie er will. Wie das Wasser ihn sich ausgemalt hat. Drunter und drüber. Keine menschgedachte Ordnung mehr. Keine Linien. Keine Ecken. Kein rechter Winkel.
Meine Schritte hallen dumpf. Wie Wände glitzern und funkeln im Schein meiner Lampe. Nur wo ich hin leuchte existiert ein Bild. Ansonsten das Dunkel. Weiter. Um die nächste Biegung. Ich klettere ein Stück hinunter, stehe bis zu den Knöcheln im Wasser. Jeder Schritt ein lautes Platsch. Dann muss ich wieder hochklettern. Unten wird es zu schmal. Alles, was größer ist als der Bach passt nicht mehr hindurch.
Vereister Blumenkohl. Ja so sieht es aus. Schneeweiß mit Glitzerpünktchen. In einer Nische wie ein Exponat drei Stalagmiten. Ein unendlicher langsamer Tropfen an ihrer Spitze. Das Werkzeug des grandiosen Bildhauers, der hier seine Kunst entfaltet. Kunst, wie sie kein Mensch imstande ist zu schaffen.
'Geh nur, geh nur und weine mein Sohn. Denn nichts, was du geschaffen hast, ist heilig.'
So heißt es in einem Lied der Lakota- Indianer.
Es zieht mich weiter. Der Lichtkegel im Schwarz. Die Höhle atmet mich ein. Hinter mir die Dunkelheit. Vor mir die Dunkelheit. Wirklich nur das, was ich unmittelbar höre und sehe. Meine Schritte. Mein Atem. Mein Herzschlag. Und dann wieder der Blutkreislauf des Berges. Das Wasser, das den Himmel kennt und das die Finsternis kennt. Das schon Meer war und wieder Meer sein wird. Wolken. Zur Erde gefallene Wolken.
Wieder stehe ich im Wasser. Mit jedem Schritt wird es tiefer. Lehm saugt an meinen Stiefeln. Kalt wird es mir unterm Bauch. Noch ein Stück. Land in Sicht. Ich krieche wieder aufs Trockene. Schwarzer Fels. Wie die versteinerte Haut eines verkohlten Krokodils. So unwahrscheinlich. Es wird eng. Die Decke kommt mir entgegen. Zwingt mich, gebückt zu gehen, dann auf den Knien. Schließlich robbe ich weiter. Demut. Höhlenstaub berührt mein Gesicht. Weiß. Gips. Erlösend, als ich meine Glieder wieder senkrecht strecken kann.
Der Raum dehnt sich aus. Eine Spalte kaum drei Mann breit, aber hoch wie eine Kirche. Weiter. Immer weiter. Der Schatz liegt stets hinter der nächsten Biege verborgen.
Tatsächlich. Ein kleiner Wald von Stalaktiten verschiedener Größen. Die längsten sind etwas 50 Zentimeter. Man sagt im Schnitt wachsen die Zapfen einen Millimeter in zehn Jahren. Das bedeutet 50 000 Jahre für den Großvater unter ihnen. Ich klopfe mit den Fingerknöcheln dagegen. Hier und da, oben und unten. Jeder klingt anders. Ein Klangspiel. Das wohl älteste Instrument der Welt. Phantastisch. Unwirklich. Verzaubert. Ich kann mich kaum losreißen. Doch ich muss weiter. Immer weiter in die Unterwelt.
Hier ist die Erde wie sie sich gefällt. Wild. Unberechenbar für Vernunftswesen. Geradewohl. Ungebrochen. Ich bin ein kleines Insekt, das sich durch ihren riesigen Leib bewegt. Die Wände leben. Die Steine wachsen. Pulsieren. Wasser und stete Langsamkeit verleihen ihnen organisches Dasein. Wohin wird dieser Weg mich führen? Wo endet dieses System?
Raum und Zeit, wie sie da draußen angeblich existieren, verlieren hier ihren Halt. Wie lange bin ich schon hier drin? Wie weit bin ich gegangen? Es ist mir nicht mehr nachvollziehbar. Nur ein unnötiges Ratespiel. Hier wirkt nichts ein von dem, was da draußen für wichtig genommen wird. Kein Lichtstrahl. Keine Funksignale. Keine Macht der Menschenwelt.
Was ist, wenn ich falle? Wenn ich mich verletze? Wenn ich nicht mehr weiter weiß?
Dann gehöre ich der Höhle. Voll und ganz der Erde.
Ich lösche das Licht. Vollendete Dunkelheit. Lautloseste Stille. Nichts als mein Bewusstsein und rundherum ein schwarzer Spiegel. Alles, was ich mir vorstelle, lauert dort auf mich. Wer oder was steht da genau vor mir? Sieht mich, ohne dass ich es sehen kann? Gleich wird es mich berühren und ich werde sterben, einfach so vor Schreck. Aushalten und weiter atmen. Sind es meine persönlichen Gespenster? Oder die, die mir meine Kultur unters Bett gelegt hat? Fear of the dark...
Die Decke senkt sich. Das Plätschern wird lauter. Das Wasser steigt. Die Höhle wird geflutet. Draußen regnet es... Hier komme ich nie wieder raus. Herzschlagbeschleunigung. Ist Panik eine Option?
Anhalten. Pausenknopf.
Wer bestimmt eigentlich, was ich denke? Was ich mir vorstelle?
Lass ich meine Phantasie mit mir durchgehen oder reite ich den Pegasus zielgerichtet?
Die Angst kann überwältigend sein. Die Angst kann mich vor sich her scheuchen wie ein schwarzer Kater eine wehrlose Spitzmaus. Mich piesacken. Mich quälen und mich schließlich auffressen. Was aber wenn die Maus sich entscheidet, ein Löwe zu sein? Weiter zu atmen, ihre Kraft, ihr Zentrum zu spüren? Dann findet sie ihren Weg durch das Labyrinth des Minotaurus. Vielleicht bedeutet Löwenmut Todesmut und Todesmut nicht mehr als keine Angst vor dem Ende zu haben, weil das Ende im besten Falle einfach nur ein Übergang ist. Ein Ausgang aus der Dunkelheit. Eine Wiedergeburt ins Licht der Sonne.
Ich drücke den Knopf meiner Lampe und die Welt ist wieder da. Die Unterwelt. Die Welt unter der Welt. Schwer erreichbar. Kaum zugänglich. Abgeschieden. Unbestechlich. Unverkäuflich. Wahrhaftig. Kein Schein der trügt.
Noch ein Stückchen weiter und noch ein Stückchen. Stein, Schere, Papier. Neugier besiegt Angst. Gänge zweigen ab. Es wird immer unübersichtlicher. Kein Navi. Wie albern. Und wie gut, dass Google hier nichts zu suchen hat. Man kann auch einfach drei Steinchen übereinanderstellen. Wieder eine Engstelle. Noch einmal durchzwängen. Bloß nicht steckenbleiben. An der Stelle gut, kein Dicker zu sein. Vor mir zwei Gänge. Einer nass und einer trocken. Im Zweifel immer den leichteren Weg. Und so geht es Steintürmchen um Steintürmchen weiter. Tiefer. Immer tiefer in die Anderswelt.
Gehe ich vielleicht zu weit? Bin ich hier noch willkommen? Oder sind die Geister, die hier unten wohnen nicht mehr so begeistert, dass ich hier in ihrer Bude herumstöbere? Ja, ich spüre ihre Präsenz. Es sind nicht mehr meine Kinofiguren. Es ist nicht mehr nur der Spuk in meinem Kopf. Hier ist etwas gegenwärtig, körperlos wesentlich, das hier mehr Zuhause ist als ich. Das Respekt verdient. Das ihn einfordert und das nicht sentimental ist. Es wird Zeit umzudrehen.
Aber einer geht noch... Einer geht immer noch. Nur noch hinter die nächste Biegung sehen. Nur noch schauen, wo der beste Schlusspunkt ist. Und was, wenn dir das Licht ausgeht? Ich habe natürlich eine Ersatzlampe in meinem kleinen Rucksack. Sicherheitshalber schaue ich nach ihr und da sehe ich sie auch schon durch die poröse Haut des Rucksacks leuchten. Keine Ahnung, wie lange sie da schon so unnötig vor sich hin leuchtet. Und was wäre, wenn mir eine Lampe runterfällt und zwischen den Felsblöcken verschwindet? Kein Entkommen mehr. Ohne Licht gibt es absolut keine Chance, wieder zurückzukommen. Zu verworren, zu drunter und drüber, zu unlogisch, zu unmenschlich ist der Höhlenverlauf.
Und dann vor mir wieder ein Gang mit Wasser. Etwa bauchtief, ich müsste gebückt gehen, den Kopf knapp unterm Fels und gerade so überm Nass. Es reicht. Raus hier. Und so mache ich mich auf den Rückweg. Das Besondere am Rückweg aber ist, dass er ganz anders aussieht als der Hinweg. Denn jetzt ist eben alles andersherum. Nur gut, dass ich meine Steintürmchen gebaut habe. Sie geben mir Halt. Sie sind mein roter Faden. Ich gehe nun schneller. Es zieht mich hinaus, zurück ins Licht. Zurück ins Wohlbekannte.
Eine Stelle ohne Markierung... Nur von dieser Seite wird ersichtlich, dass es drei Möglichkeiten gibt. Von wo bin ich gekommen? Ruhig bleiben. Nachdenken. Eins, zwei oder drei?! Und ob ihr wirklich richtig geht, seht ihr nicht mehr, wenn das Licht ausgeht...
Entscheiden. Im Zweifel die Mitte. Die Mitte fühlt sich leicht an. Kurz darauf wieder ein Steintürmchen. Bald werde ich draußen sein. Ich freue mich auf ein goldglänzendes Cerveza im Sonnenschein. Die Weite der Oberwelt.
Ich höre menschliche Stimmen im Murmeln des Wassers. Meine spanische Wortfetzen aufzuschnappen. Oh Nein! Ich will meine Unterwelt doch für mich alleine haben! Das kann doch eigentlich gar nicht sein. Ich warte. Lausche. Die Stimmen müssen näher kommen. Sie tun es nicht. Egal wie lange ich warte und lausche. Es sind Geisterstimmen. Im Wasser. In meinem Kopf. Zeit nach Hause zu gehen.
Wieder ein Steintürmchen. Das mit dem weißen Kopf. Aber Moment mal... Gab es zwei mit weißem Oberstein? Ich kann mich nicht erinnern. Eigentlich war es doch nur das Letzte... Ich gehe noch ein Stück weiter und die Gewissheit trifft mich wie ein Blitz aus der Dunkelheit. Vor mir liegt die Passage mit dem Wasser bis fast zur Decke. Ich bin im Kreis gelaufen und habe es nicht bemerkt.
Meine Realität zerbröckelt. Eben noch war ich kurz vorm Ausgang, nun wieder ganz am Ende meines Weges. Zurück. Meine Schritte werden schneller. Meine Bewegungen unvorsichtiger. Ich versuche die Wasserpassagen nicht mehr möglichst trocken zu durchqueren, sondern platsche mitten hindurch. Ein paar Schritte weiter erinnere ich mich an meinen absoluten Notfallplan und stelle entsetzt fest, dass ich diesen gerade zunichte gemacht habe. Die Streichhölzer in der Tasche meines Kapuzenpullis sind nass.
Ruhig, Zotteliger. Ganz ruhig. Innehalten und Atmen. Ich bin hier reingelaufen und ich laufe hier auch wieder raus. Keine Ahnung wie der Richtungswechsel zustande gekommen ist. Nur langsam und an jeder zweifelhaften Stelle gut überlegen. Atmen nicht vergessen.
Es funktioniert. Bekannte Tropfsteine, gemeisterte Hindernisse, meine Fußspuren in den Lehmpassagen. Und irgendwann ein Funken im schwarzen Gestein. Ich lösche noch einmal die bereits müde gewordene Stirnlampe. Tageslicht. Freude steigt auf. Dankbarkeit, als ich mich durch die Geröllbrocken winde. Hoch. Aufwärts. Hinaus ins Leben Übertage.
Heller mir die Sonne nie schien. Süßer die Vögel nie sangen. Meine Augen tauchen wie verspielte Delfine durch die Weite. Vor mir die Welt mit all den Menschen, die sie auf den Kopf stellen. Und ich bin wieder einer von ihnen. Einer, der sich auch in der Unterwelt kennengelernt hat.
'Warum machst du das? Was findest du dabei?'
Man fragt mich das und ich frage mich das auch. Ich gehe gerne in Höhlen und besonders gerne ganz allein. Mir geht es nicht um die sportliche Herausforderung. Alles, was ich an Klettern und Kriechen aufwenden muss, ist Mittel zum Zweck. Mir geht es auch nicht um den Adrenalin-Kick. Gleichwohl der ab und an auch sehr gesund ist, um die harte Kruste der Komfortzone aufplatzen zu lassen, damit wieder mehr Lebendigkeit hineinschimmert. Mir geht es nicht darum, geologische Besonderheiten zu bestimmen. Zu dokumentieren. Zu vermessen und zu erforschen. Ich bin kein Speläologe und ich möchte mich auch keinem Speläologie-Verein anschließen. Die Vorstellung, mit einer palavernden Gruppe von Menschen dort im Haus der Geister unterwegs zu sein, gefällt mir nicht. Nein, es ist für mich keine Outdoor-Adventure-Sportaktivität. Ich bin kein Freund von kommerziellen Anbietern solcher bis ins letzte Detail durchgeplante und abgesicherte 'Abenteuer' für Normalverbraucher. Ich mag keine Aufbackbrötchen.
Ebensowenig ist mir das vorwitzige Erforschen, Erobern, Kartografieren- Unterwerfen des Mysteriums unter die Fuchtel des rationalen Verstandes ein Anliegen.
Nein, für mich ist es ein Kirchgang. Eine Pilgerfahrt in die Kathedralen der Erdmutter. Ein demütiges und kindliches Staunen. Eine bewusste Abkehr von der Ober- und manchmal Überwelt, die sich allzu wichtig nimmt, in archaische Wurzelgründe. In der Dunkelheit dort werde ich hellwach. Sie hilft mir, meinen Schatten nach Hause zu bringen, um in der Sonnenwelt heller zu scheinen. Dankbar zu strahlen, für all das, was wunderbar ist.
Infos zur Cueva del Agua:
Dieses Höhlensystem befindet sich im Gips-Karstgebiet bei Sorbas in der Region Almeria/ Andalusien. Seine Gesamtlänge wird auf elf Kilometer beziffert. Es gibt einige Siphons, die nur mit Taucherequipment zu durchqueren sind. Sie gilt als die Größte der im Vergleich zu den Kalksteinhöhlen eher seltenen Gips-Höhlen Europas.

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