Der Zauber des Echten

Veröffentlicht am 16. Februar 2025 um 12:25

El Torcal, 16. Februar 2024

 

Rotkehlchen und Meisen zwitschern über mir in den kahlen Zweigen, in denen noch ein paar vergessene Beeren hängen. Mein alter Freund der Weißdorn ist also auch hier. Hoch oben, über tausend Meter und zu seinen Füßen Gänseblümchen. Ein Stück Heimat weit weg. Inmitten eines gigantischen Irrgartens aus weißem Kalksteinfels. Brocken, Türme, schmale Gänge die sich ins Nichts verlaufen oder zu gewaltigen Aussichten wie auch Einsichten führen. Ich bin abseits der ausgetretenen Pfade querfeldein geschlichen, wie so oft im Leben. Mittendrin statt nur dabei. Mitten in der Landschaft. Aber nein, dass ist gar keine Landschaft. Landschaft ist Land, was die Menschen geschaffen oder zumindest geprägt haben. Ich weiß nicht was das hier ist. Kein Name scheint mir angebracht, es direkt anzusprechen. Es lässt sich mit Worten umspielen, und das ist alle sund das ist mehr als genug. Ein Wunder allemal, was Meer und Wind und Regen und Sonne, die ja alle Zeit der Welt haben, hier geschaffen haben.

Ich versuche mit meiner Flöte den richtigen Ton zu treffen. Den Rhythmus dieses Liedes zu finden. Ich muss gut zuhören. Musik beginnt und endet beim Zuhören. Die Vögel scheine ich zumindest schon einmal nicht zu stören.

Dennoch gibt es etwas in mir, dass sich, wenn vielleicht auch nicht als Eindringling, dann doch als Sonderling hier in der Wildnis fühlt. Als einer von drüben, von dieser von den meisten Tieren gemiedenen Betonwelt. Einer von denen, die sich wie Außerirdische auf dem eigenen Heimatplaneten aufführen, als ständen sie über allem. Die Tiere Misstrauen uns. Ich glaube, dass war nicht immer so und das muss auch nicht so bleiben. Farblich passe ich zumindest schon ein wenig hier rein, in meinen Matten grünen und hellbraunen Klamotten. Auf den Wanderwegen nehmen sich die vielen grell bunten Männchen hingegen in scharfem Kontrast zur Umgebung aus. Schlecht angepasst an das Habitat, schlittern sie auf Plastiksohlen über das Urgestein, reden viel zu laut und hören die Vögel nicht. Ich kenne diesen Zustand ja selber nur allzu gut. Der Geist irrt in der Zeit herum, erzählt Geschichten von Gestern, plant für das Übermorgen und verpasst die unmittelbare und einzig wahre Wirklichkeit. Das viel gerahmte hier und jetzt. Für die Tiere ein albernes Gedankengeplänkel.

Wie Flinten werden monströse Kameras über die Felsen geschwenkt, um hier und a wenigstens einen Abdruck, wenigstens eine Kopie des perfekten Momentes zu erhaschen. Um ihn später z betrachten. Aber verblassen dann nicht die inneren Bilder? Diejenigen, die sich uns in die Seele brennen, wenn wir eben mit ganzer Seele im Moment gegenwärtig sind?

Wie oft mache ich selber Bilder, um sie Freunden zu zeigen, die irgendwo weit weg in einer ganz anderen Gegenwart sind. Dann zeige ich ihnen die Kopie eines Wirklichkeitsfragmentes und sie denken sich: Ah, ja ganz schön da, und verpassen indem Augenblick auch schon wieder ein Stück ihres Hier und Jetzt.

Ich ziehe weiter, lasse den Weißdorn stehen, dort wo er immer steht. Allgegenwärtig. Ich springe über Felsen, zwischen denen schmale Klüfte in dorniges Gestrüpp führen. Wenn ich da reinfalle werde ich nur blaue Flecken und Schrammen abbekommen, aber ich werde mich wohl nicht aus eigener Kraft wieder herausbekommen können. Also Obacht geben und diese Obacht die querfeldein zwingend erforderlich wird, macht wach. Lässt nicht zu in verstaubten Gedankengängen herumzutrotten. Ein Gedankentrottel zu sein, der die ganze Zeit vor sich hinklügelt, ohne dabei wirklich schlauer zu werden.

In einem Tierschutzprojekt im Schwarzwald hat man Bären, die ihr Leben lang in kleinen Käfigen unschuldig gefangen gehalten worden sind, freigekauft und in ein großes Freigehege gesetzt. Diese Bären haben dann dort genau das getan, was sie sich in ihrem Käfigleben als Muster ins Gehirn gebrannt hatten: Sie liefen in endlosen Schleifen auf kleinem Areal hin und her, auf und ab. Sie fragen, kackten und schliefen und das war es. Dann aber holte man Wölfe dazu. Wölfe und Bären teilen einen Lebensraum und hegen dabei großen Respekt und Vorsicht voreinander. Dies hat die Bären dazu gebracht aus ihrem Bann zu erwachen. Die echte, latent vorhandene Gefahr hat sie aus ihrer Neurose gerissen.

Die Sonne hat Kraft, doch der Wind hier oben bläst kalt. Mariendisteln und Engelwurz sprießen saftig aus dem kühlen Grund. Überall liegen Schafs- und Ziegenköttel verstreut. Abseits der Wege wird es leise. Kann ich die Musik hören. Den Rhythmus spüren. Umso näher ich dem Parkplatz komme, umso mehr geht er mir verloren. Dort herrscht ein anderer Beat. Eine andere Lautstärke. Es dröhnt, es rauscht, eine Autoalarmanlage jammert alleingelassen vor sich hin. Die Leute reden aut, um sich gegenseitig zu übertönen, ein Handy dudelt in miserabler Soundqualität einen miserablen Song. Es ist wie, als spielten die Menschen ihr eigenes Konzert. Wie, als spielte eine perfekt durch komponierte Symphonie, über Jahrmillionen erprobt, und dann kämen ein paar besoffene Fußballfans und grölten ihre Schlachtgesänge. Bar jeglichen Kontextes, Out of tune, ohne Rhythmus, einfach so drauflos. Völlig überzeugt von ihrem Treiben, als ob dies irgendwie wichtig wäre. Für den großen Dirigenten der Schöpfungs-Philharmonie wohl einfach nur ein Fragezeichen. Ich glaube er weiß genau, dass ihnen schon bald der Saft ausgehen wird, aber so lange sie können machen sie Radau. Und auch wenn ich jetzt gerade auf einem grau-weißen Felsturm über diesen Parkplatz erhaben sitze, so werde ich nachher auch wieder in den Radau miteinstimmen, spätestens wenn ich den Motor anwerfe.

Aber noch bin ich hier und immerhin möchte ich, wenn ich hier als Fremdling zu Gast bin, mich als guter Gast in den Lebensraum der Eingeborenen fügen. Wieder leihe ich dem Wind ein paar Flötentöne, der sie übermütig davon trägt. Weiter geht es durch Gestrüpp, lass ich Brombeerranken an mir herumzerren und gehe auf Tierpfaden. Ich lasse mich verirren. Es tut mir bisweilen gut. Da muss ich mich verirren, bis dahin, wo kein fest gedachter Gedanke mehr mitkommen kann und mein Smartphone, dieser Taschengollum, hat hier auch rein gar nichts zu bestellen. Es ist gut, sich zu verirren, um sich wieder zu finden.

Wolken ziehen den Himmel zu. Es ist grau. E war schon so lange nicht grau. Von weitem höre ich Schafsglocken. Es mag ja gut sein, damit der Hirte seine Tiere wiederfinden kann. Gleichzeitig ist auch das Menschenradau, der den Tieren übergestülpt wird. Ich Frage mich wie es wäre, wenn ich den ganzen Tag mit einer Bimmel den Glocke um den Hals herum laufen müsste und im nächsten Moment wird mir klar, dass es solche Tage gibt in meinem Leben. Wo es die ganze Zeit zwar nicht um meinen Hals, dafür aber in meinem Kopf bimmelt.

Weiter. Noch weiter weg. Ins Abseits. Ins Abseits der Gewohn- und der Gepflogenheiten. Wo komm ich her? Wo will ich hin? Was soll ich hier? Nichts und Nirgends. Einfach nur so einfach nur da. Klettern. Springen. Zickzack- Laufen.

Eine Orchidee am Kalkstein. Und Andorn. Ich reiße ein Blättchen ab und kaue es. Es ist unfassbar bitter. Doch bitter tut gut, macht wach und klar. Ich kaue noch eines und da fühle ich mich plötzlich beobachtet. Ich schaue mich um. Niemand da. Und doch da ist ein Blick. Wie von selbst drehen ich mich um und schaue schräg nach oben auf die Zinne des Felsturmes kaum drei Meter über mir.

Der lange schwarze Balken im Auge meines Betrachters wackelt. Ein Steinbock. Die langen Hörner in den Himmel, so stolz und demütig zugleich. Ja, er ist hier Zuhause. Er ist ein wahrhaft Eingeborener. Und ich stehe hier als Flüchtling der zivilisierten Welt hier in seinem Wohnzimmer.

Als einer von denen da unten. Als einer, von denen, vor denen man sich als Wilder vorsehen muss.

Ich fühle mich ertappt, erwischt und zugleich beglückt von soviel anmutiger Präsenz. Ein Bedürfnis ihm nahe, ihm noch näher zu sein. Ihm, oder dass für was er in dem Moment in mir steht: Der Urkraft, dem ungebrochenen Schöpfungstanz, dem Teilhaftig sein dieser Welt. Ich gehe einen Schritt auf ihn zu und er baut Spannung auf. Noch ein Schritt und er beginnt zurückzuweichen. Ich verstehe. Das ist nahe genug. Ich respektiere seine Fluchtdistanz. Und da meldet sich mein Taschengollum, der längst auch schon in einem Kopf in einer dunklen Ecke haust.

„Mach ein Foto! Das kannst du teilen! Das ist so etwas besonders! Wäre doch schade!“

Und ich greife in meine Tasche wie Frodo nach seinem Ring. Ziehe ihn heraus, setze ihn auf, mach mich unsichtbar, oder vielmehr unwirklich. Verlasse die Realität de Steinbocks und sehe ihn verzerrt durch den Spiegel des Ringes. Gleichzeitig bin ich nicht mehr allein. Das große Auge sieht mich. Es sieht alles. Zumindest wenn wir diesen Ring benutzen. Ich habe auf den Steinbock angelegt. Ich drücke ab und er wendet sich ab. Indem Moment schäme ich mich.

Ich habe unseren intimen, zauberhaften Moment gestört, indem ich ihn zum Teil meiner Krachmacherwelt gemacht habe. Ich stecke das Ding weg. Intuitiv greife ich wieder nach dem Andorn, zupfe noch ein Blättchen ab, stecke es in den Mund und kaue. Ich nehme den Steinbock aus meinem Fokus. Und das beruhigt ihn. Wie oft habe ich schon die Erfahrung gemacht, dass Tiere sich entspannen, sobald wir nicht mehr die geballte, direkte Aufmerksamkeit auf sie richten. Sie eher nebenher betrachten. Absichtslose. Arglos. Er scheint z bemerken, dass ich hier bin, um ein bisschen grün zu fressen, sowie er vielleicht auch. Das ich Ben auch da bin, aber nicht wegen ihm da bin. Sowie es auch ein Wildschwein sein könnte. Oder eines von diesen domestizierten Radau- Schafen. Und so knabbern wir noch ein bisschen Grünzeug beieinander. Sind beide da. Einfach so und voll und Ganz. Ein bezaubernder Moment. Ein Moment des Echtseins.

 

Auf meinem Weg zurück durch den Irrgarten fühle ich tiefe Ruhe und Dankbarkeit. Es ist doch soviel mehr, ein Tier hier auf eigenen Füßen querfeldein zu treffen, dass sich mir aus freien Stücken zeigt, als auf einer Safari-Tour im Jeep die sogenannte 'Big Five' zu sehen. Jedesmal, wenn ich so eine Begegnung einstellt, wo ich ein bewusstes gegenseitiges Wahrnehmen des Tieres, des Vogels oder auch des Käfers, und mir wahrnehme, fühle ich mich gesehen. Fühle ich mich als Teil des Echten, des Natürlichen. Und mich somit zutiefst aufgehoben und daheim auf dieser Erde.

Und während ich mich noch so darüber freue, ruft mir auch noch der Uhu aus der Felswand zu.

Ja, die Tiere sind offen für uns, wenn wir unseren Tunnelblick ablegen und weit werde wie der Blick der Eule. Nicht wollend, nicht fordernd. Nicht zugreifend, nicht festhaltend. Mit offenen Händen und offenen Herzen. Dann sind wir angekommen im Zauber des Echten.

 

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.