El Torcal, 16. Februar 2024
Rotkehlchen und Meisen zwitschern über mir in den kahlen Zweigen, in denen noch ein paar vergessene Beeren herumhängen. Mein alter Freund der Weißdorn ist also auch hier. Hoch oben, über tausend Meter und zu seinen Füßen Gänseblümchen. Ein Stück Heimat weit weg. Inmitten eines gigantischen Irrgartens aus weißem Kalksteinfels. Brocken, Türme, schmale Gänge die sich ins Nichts verlaufen oder zu gewaltigen Aussichten wie auch verblüffenden Einsichten führen. Ich bin abseits der ausgetretenen Pfade querfeldein geschlichen, wie so oft im Leben. Mittendrin statt nur dabei. Mitten in der Landschaft. Aber nein, dass ist gar keine Landschaft. Landschaft ist Land, was die Menschen geschaffen oder zumindest geprägt haben. Ich weiß nicht was das hier ist. Kein Name scheint mir angebracht, es direkt anzusprechen. Dieses wundersame Fleckchen Erde lässt sich mit Worten umspielen, dass ist alles und das ist mehr als nur genug. Ein Kunstwerk allemal, was Meer und Wind und Regen und Sonne in aller Zeit der Welt hier geschaffen haben.
Mit meiner Flöte versuche ich den richtigen Ton zu treffen. Den Rhythmus dieses Liedes zu finden. Ich muss die Ohren spitzen. Musik beginnt und endet beim Zuhören. Die Vögel scheine ich zumindest schon einmal nicht zu stören.
Dennoch gibt es etwas in mir, dass sich, wenn vielleicht auch nicht als Eindringling, dann doch als Sonderling hier in der Wildnis fühlt. Als einer von drüben, aus dieser von den meisten Tieren gemiedenen Betonwelt. Einer von denen, die sich wie Außerirdische auf dem eigenen Heimatplaneten aufführen, als ständen sie über allem. Die Tiere Misstrauen uns. Ich glaube, dass war nicht immer so und dass muss auch nicht so bleiben. Farblich passe ich zumindest schon ein bisschen hier rein, in meinen mattgrünen und hellbraunen Klamotten. Auf den Wanderwegen hingegen nehmen sich die vielen grellbunten Männchen in scharfem Kontrast zur Umgebung aus. Schlecht angepasst an das Habitat, schlittern sie auf Plastiksohlen über das Urgestein, reden viel zu laut und hören die Vögel nicht. Ich kenne diesen Zustand ja selber nur allzu gut. Der Geist irrt in der Zeit herum, erzählt Geschichten von Gestern, plant für das Übermorgen und verpasst die unmittelbare und einzig wahre Wirklichkeit. Dieses viel gerühmte Hier und Jetzt. Für die Tiere bloß albernes Gedankengeplänkel.
Monströse Kameras werden wie Flinten über die Felsen geschwenkt, um hier und da wenigstens einen Abdruck, eine Kopie des perfekten Momentes zu erhaschen, um ihn später zweidimensional zu betrachten. Aber verblassen dabei nicht die inneren Bilder? Diejenigen, die sich uns in die Seele brennen, wenn wir mit ganzer Seele im Moment gegenwärtig sind?
Wie oft mache ich selber Fotos, um sie Freunden zu zeigen, die irgendwo weit weg in einer ganz anderen Gegenwart sind. Dann zeige ich ihnen die Kopie eines Wirklichkeitsfragmentes und sie denken sich: Ah, ja ganz schön da, und verpassen in dem Augenblick auch schon wieder ein Stückchen ihres Hier und Jetzt.
Der Weißdorn schüttelt den Kopf und ich ziehe weiter. Springe über Felsen, zwischen denen schmale Klüfte in dornigem Gestrüpp enden. Wenn ich da reinfalle werde ich mir icht das Genick brechen. Ich werde nur blaue Flecken und Schrammen davontragen, aber ich werde mich definitiv nicht aus eigener Kraft wieder befreien können. Also Obacht geben und diese querfeldein zwingend erforderliche Obacht macht wach. Lässt nicht zu in verstaubten Gedankengängen herumzutrotten. Ein Gedankentrottel zu sein, der die ganze Zeit vor sich hinklügelt, ohne dabei wirklich schlauer zu werden.
In einem Tierschutzprojekt im Schwarzwald hat man Bären, die ihr Leben lang in kleinen Käfigen unschuldig gefangen saßen, in ein großes Freigehege verpflanzt. Diese Bären haben dann dort genau das getan, was sie sich in ihrem Käfigleben als Muster ins Gehirn gebrannt hatten: Sie liefen in endlosen Schleifen auf wenigen Metern hin und her. Sie fraßen, kackten und schliefen und das war es. Dann aber holte man Wölfe hinzu. Wölfe und Bären hegen in freier Wildbahn einen großen Respekt voreinander. Vorsicht war geboten und diese Alarmbereitschaft hat die Bären aus ihrem Bann erwachen lassen. Die echte, latent vorhandene Gefahr hat sie aus ihrer Neurose gerissen.
Die Sonne hat Kraft, doch der Wind hier oben bläst kalt. Mariendisteln und Engelwurz sprießen aus dem kühlen Grund. Überall liegen Schafs- und Ziegenköttel verstreut. Abseits der Wege wird es leise. Ich kann das Lieder der Erde hören. Ihren Rhythmus spüren, doch umso näher ich wieder dem Parkplatz komme, desto mehr geht er mir verloren. Dort herrscht ein anderer Beat. Eine andere Lautstärke. Es dröhnt, es rauscht, eine Autoalarmanlage jammert alleingelassen vor sich hin. Die Leute reden aut, um sich gegenseitig zu übertönen, ein Handy dudelt einen miserablen Song. Es ist wie, als spielten die Menschen ihr eigenes Konzert. Wie, als spielte eine perfekt durch komponierte Symphonie, über Jahrmillionen erprobt, und dann kämen ein paar besoffene Fußballfans und grölten ihre Schlachtgesänge. Bar jeglichen Kontextes, Oot of tune, ohne Rhythmus, einfach so drauflos, völlig überzeugt von ihrem Treiben. Für den großen Dirigenten der Schöpfungssymphonie wohl einfach nur ein tragendes Kopfschütteln. Ich glaube er weiß genau, dass ihnen schon bald der Saft ausgehen wird, aber so lange machen sie noch Radau. Und auch wenn ich jetzt gerade auf einem grau-weißen Felsturm über diesen Parkplatz erhaben sitze, so werde ich nachher auch wieder in den Radau miteinstimmen, spätestens wenn ich den Motor anwerfe.
Aber noch bin ich hier und immerhin möchte ich, wenn ich hier als Fremdling zu Gast bin, mich als guter Gast in den Lebensraum der Eingeborenen fügen. Wieder leihe ich dem Wind ein paar Flötentöne, der sie übermütig davon trägt. Weiter geht es durch Gestrüpp, lass ich Brombeerranken an mir herumzerren und gehe auf Tierpfaden. Ich lasse mich verirren dahin, wo kein fest gedachter Gedanke mehr mitkommen kann und mein Smartphone, dieser Taschengollum, nichts mehr zu bestellen hat.
Wolken ziehen den Himmel zu. Es war lange nicht so grau. Von weitem höre ich Schafsglocken. Es mag ja gut sein, damit der Hirte seine Tiere wiederfinden kann. Gleichzeitig ist auch das Menschenradau, der den Tieren übergestülpt wird. Ich frage mich wie es für mich wäre, wenn ich den ganzen Tag mit einer Glocke um den Hals herum laufen müsste und im nächsten Moment wird mir klar, dass es solche Tage tatsächlich gibt in meinem Leben. Wo es die ganze Zeit zwar nicht um meinen Hals, dafür aber in meinem Kopf bimmelt.
Weiter. Noch weiter weg. Ins Abseits. Ins Abseits der Gewohn- und der Gepflogenheiten. Wo komm ich her? Wo will ich hin? Was soll ich hier? Nichts und Nirgends. Einfach nur so einfach nur da. Klettern. Springen. Zickzack- Laufen.
Eine Orchidee am Kalkstein. Und Andorn. Ich reiße ein Blättchen ab und kaue es. Es ist unfassbar bitter. Doch bitter tut gut, macht wach und klar. Ich kaue noch eines und da fühle ich mich plötzlich beobachtet. Ich schaue mich um. Niemand da. Und doch da ist ein Blick. Wie von selbst drehen ich mich um und schaue schräg nach oben auf die Zinne des Felsturms kaum drei Meter über mir.
Der lange schwarze Balken im Auge meines Betrachters wackelt. Ein Steinbock. Die langen Hörner in den Himmel, so stolz und demütig zugleich. Ja, er ist hier Zuhause. Er ist ein wahrhaft Eingeborener. Und ich stehe hier als Flüchtling der zivilisierten Welt hier in seinem Wohnzimmer.
Als einer von denen da unten. Als einer, von denen, vor denen man sich als Wilder vorsehen muss.
Ich fühle mich ertappt, erwischt und zugleich beglückt von soviel anmutiger Präsenz. Ein Bedürfnis ihm nahe, ihm noch näher zu sein. Ihm, oder dass für was er in dem Moment in mir steht: Der Urkraft, dem ungebrochenen Schöpfungstanz, dem Teilhaftigsein dieser Welt. Ich gehe einen Schritt auf ihn zu und er baut Spannung auf. Noch ein Schritt und er beginnt zurückzuweichen. Ich verstehe. Das ist nahe genug. Ich respektiere seine Fluchtdistanz. Und da meldet sich mein Taschengollum, der längst auch schon in einem Kopf in einer dunklen Ecke haust.
„Mach ein Foto! Das kannst du teilen! Das ist so etwas besonders! Wäre doch schade!“
Und ich greife in meine Tasche wie Frodo nach seinem Ring. Ziehe ihn heraus, setze ihn auf, mach mich unsichtbar, oder vielmehr unwirklich. Verlasse die Realität des Steinbocks und sehe ihn verzerrt durch den Spiegel des Ringes. Gleichzeitig bin ich nicht mehr allein. Das große Auge sieht mich. Es sieht alles. Zumindest wenn wir diesen Ring benutzen. Ich habe auf den Steinbock angelegt. Ich drücke ab und er wendet sich ab. Indem Moment schäme ich mich.
Ich habe unseren intimen, zauberhaften Moment gestört, indem ich ihn zum Teil meiner Krachmacherwelt gemacht habe. Ich stecke das Ding weg. Intuitiv greife ich wieder nach dem Andorn, zupfe noch ein Blättchen ab, stecke es in den Mund und kaue. Ich nehme den Steinbock aus meinem Fokus. Und das beruhigt ihn. Wie oft habe ich schon die Erfahrung gemacht, dass Tiere sich entspannen, sobald wir nicht mehr die geballte, direkte Aufmerksamkeit auf sie richten, sie aus dem Tunnelblick entlassen. Sie nebenher betrachten. Absichtslos. Arglos. Er scheint zu bemerken, dass ich hier bin, um ein bisschen grün zu fressen, sowie er vielleicht auch. Das ich es nicht auf ihn abgesehen habe. Und so knabbern wir noch ein bisschen Grünzeug beieinander. Sind beide da, einfach so und voll und ganz. Ein bezaubernder Moment. Ein Moment des Echtseins.
Auf meinem Weg zurück durch den Irrgarten fühle ich tiefe Ruhe und Dankbarkeit. Es ist doch soviel mehr, ein Tier hier auf eigenen Füßen querfeldein zu treffen, dass sich mir aus freien Stücken zeigt, als auf einer Safari-Tour im Jeep die sogenannte 'Big Five' zu sehen. Jedesmal, wenn sich ein bewusstes, gegenseitiges Wahrnehmen des Wilden und mir ergibt, fühle ich mich als Teil des Echten, dabei zutiefst aufgehoben und daheim auf dieser Erde.
Und während ich mich noch so darüber freue, ruft mir auch noch der Uhu aus der Felswand zu.
Ja, die Tiere sind offen für uns, wenn wir unseren Tunnelblick weiten. Nicht wollend, nicht fordernd. Nicht zugreifend, nicht festhaltend. Mit offenen Händen und offenen Herzen. Dann sind wir angekommen im Zauber des Echten.
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