Der Schildkröten- Mann

Veröffentlicht am 16. März 2025 um 15:52

Der Schildkröten- Mann auf der Überholspur

 

Aguilas, März 2025

 

Fast hätte er mich überfahren. Mit seinem Rollator, als ich vom Pinkeln kam, beschwingt um meinen Bus bog und er so schnell er konnte dem Hupen des Brötchenbringers folgte. Geschätzte anderthalb km/h.

„Der fährt nicht weg, bevor ich meine Brötchen hab. Der kennt mich schon!“, sagt er mit der Stimme einer rostigen Gießkanne. Mein Nachbar. Bernhard. Er wohnt hier auf dem Parkplatz der Karolina -Bucht, wie so manch anderer Rentner und Tagedieb auch. Zumindest den Winter über, weil es eben den hier in Südspanien nicht gibt und das den alten Knochen keinen Abbruch tut, ganz im Gegenteil.

„Die Sonne lässt mich am Leben“, sagt er.

„Im nasskalten Deutschland wäre ich schon vergammelt.“

Er ist auf seiner morgendlichen Jagd. Grüßt jeden den er kennt und wer ihn noch nicht kennt, der wird ihn bestimmt noch kennenlernen. So wie ich gestern. Als einer der flüchtigen Gäste auf diesem lehmigen Parkplatz, der geballten Unromantik aus Blech und Kunststoff, Farbe und Rost, hinter der dann der kleine Streifen Strand- Idylle vor sich hin träumt, weswegen sie alle hier sind: Die Winterflüchtlinge aus Mitteleuropa. Ja, es ist ein Flüchtlingscamp, dass Menschen aus allen Gesellschaftsschichten beherbergt: Den Bonzen mit seinem reisebusgroßen Roledo, mit der integrierten Garage im Heck für den Smart, mit dem sich die Herrschaften auf Tagesausflüge begeben. Den Freak mit seinem nur mit Panzertape und Gebeten zusammengehaltenen Uralt- Kombi, und alle dazwischen und außerhalb.

„Ich mache das schon seit drei Jahren,“ erzählt er mir während wir in der kleinen Schlange vor dem weißen Kastenwagen stehen, aus dem die Brötchen verteilt werden. Einem nach den anderen bittet er den Platz vor sich in der Reihe anzunehmen. Ich zucke jedesmal auf, doch akzeptiere stillschweigend im morphogenetischen Greisenfeld, dass alle Zeit der Welt zu haben vorgibt.

„Aber letztes Jahr konnte ich nicht, da war was an meinem Herzschrittmacher und eine Hüfte wurde getauscht. Ist ja immer was zu tun an so alten Modellen wie mir.“

Er ist Mitte siebzig, hat kaum noch Haare und wirkt schon arg betagt. Könnte auch Mitte Ende Achtzig sein, aber die Auswirkungen eines gelebten Lebens sind ja sehr unterschiedlich.

„Ich habe immer gebuckelt. Irgendwann dann Kinder groß, Frau weg und immer mehr noch mehr Arbeit. Jetzt bin ich zwar kaputt, aber ich hab kapiert, dass ich machen kann was ich will. Da hab ich mir das Wohnmobil gekauft und bin losgefahren. Auf der Hinfahrt war dann irgendwas mit der Bremsanlage, da ging nur noch die Handbremse. Bin ich Zweitausend Kilometer mit Handbremse gefahren. Hab halt langsam gemacht. Hab ja Zeit.“

Ich bin beeindruckt. Normalerweise würde man jemandem wie ihm, der schlecht auf den Füßen ist und verdammt nochmal alt, gut zureden das er den Führerschein freiwillig abgibt, sich in seinen Sessel hockt und wartet bis der Sensemann klingelt. Ein wandelndes Ersatzteillager, wahrscheinlich noch mehr als sein vierzig Jahre altes Wohnmobil. Aber dieses widerspenstige Exemplar von altem Mann hat sich entschlossen, dem Tod entgegen zu reisen. Mit Handbremse. Beziehungsweise dafür, zu leben, solange er noch lebt. Hier hat er Sonne und es gibt keine nasskalte Luft die an ihm frisst. Hier hat er Leute, mit denen er quatschen kann und nicht bloß einen Flimmerkasten, der langsam sein Gehirn auffrisst.

„Es gibt tausend vernünftige Gründe, warum ich in ein Altersheim gehen sollte. Und einen guten Grund, einfach loszufahren. Dieser Grund heißt Leben.“

Zurück am Camper zeigt er mir stolz seine 'Kutsche'. Einen elektrischer Rollstuhl mit angebautem Ladefach, der hinten auf einem Gepäckträger mitfährt.

„Damit mache ich meine Besorgungen. Fahre damit an die Tankstelle zum Waschautomaten und sogar bis in die Stadt um Einzukaufen. Ich hab ja Zeit!“

Die braucht er wohl, staune ich. Das Ding fährt ja höchstens zehn km/h, wenn überhaupt. Und Nerven, um damit die kurvige Landstraße nach Aguilas zu befahren. Wie Drahtseile. Oder eher von all den Lebtagserfahrungen so ausgeleiert wie hoch flexible Gummibänder. Er hat ja auch einfach verdammt nochmal nix mehr zu verlieren. Und besser in der Sonne vertrocknet als im Sessel verfault.

Zeit. Ja Zeit. Wo sogar ich manchmal denke, dass sie viel zu schnell verstreicht. Das ich sie doch mehr nutzen muss und während ich das denke, rinnt sie mir wie Sand durch die Finger als wäre ich eine Eieruhr aus Omas Zeiten. Der Alte ist eine Schildkröte. Ja, so muss es sein. Bewegt sich in all seiner geballten Langsamkeit des schnelllebigen Fortschritts zum Hohn durch diese Welt, die wohl immer noch die seine ist, auch wenn sie ihn kaum noch kennt.

„Ich mache das jetzt immer so. Halbes Jahr Spanien, halbes Jahr Deutschland.“

Immer so. Punkt. Immer. Jeder Tag ist immer. Ein Mutmacher, ohne Absicht. Er zieht sein Ding durch, geht mit angezogener Handbremse auf der Überholspur seinen Weg Richtung Endstation 'Schwarzes Loch' und was auch immer dahinter sein mag. Druff un Dewedder, wie der Pfälzer sagt.

Was steht uns Jüngeren also zu, uns Stress zu machen? Uns über zu wenig Zeit zu beklagen, da wir doch noch so vermeintlich viel davon vor uns haben, oder zumindest haben könnten?

„Was du fährst morgen schon weiter?“, fragt er mich ungläubig.

„Ist doch schön hier! Oder hab ich dir zu viel gequasselt?“

Er zwinkert mir zu.

Ja. Warum noch in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nahe? Ist doch alles da! Essen, Trinken, Bett, nette Leute, schöner Strand. Aber dennoch: Ich will wieder Berge sehen. Will aus dem Fenster schauen und aus der Türe treten, ohne andere Autos vor Augen zu haben. Will entdecken. Will noch mehr, als all das was schon ist.

Und so bin ich am nächsten Morgen wieder auf dem Weg über die Piste zur Landstraße, biege ein und fahre noch einmal Richtung Tankstelle, weil man dort auch seine Gasflaschen füllen lassen kann. Es geht nur schleppend voran. Schrittgeschwindigkeit. Eine lange Blechschlange. Jedes zweite Glied von ihr ein Wohnmobil. Ich will Gas geben. Musik hören. Vom Fleck kommen. Auf zu neuen Abenteuern. Irgendein Trödelheini aber bremst alle anderen aus und überholen auf der kurvigen Straße ist nicht drin.

Endlich, kurz vor der Tankstelle patzt der Knoten. Es ist Bernhard, der mit seiner Kutsche abgebogen ist. Ohne sich umzudrehen hebt er den Arm zum Grüße an die zur Langweile Genötigten. Selbstverständlich. Ein alter Mann ist kein D- Zug. Aber wer weiß denn heute im Zeitalter des Express überhaupt noch, was ein D- Zug ist? Überholte Technik. Überholte Geschwindigkeit. Überholte Zeit. Doch die Zeit wird ja nicht mehr, wenn man sich beeilt. Ganz im Gegenteil. Die Zeit wird mehr, wenn man sich Zeit lässt.

Es ist doch so, dass wenn wir viel erleben, das heißt bewusst wahrnehmen, egal wie groß oder klein die Dinge und Ereignisse um uns herum erscheinen, verfliegen die Stunden und Tage nur so, rückwärts betrachtet aber sind sie prall voll gefüllt mit Erinnerungen und wir wundern uns, wie das alles in diese kurze Zeit hineinpassen konnte. Während ich mich an Zeiten erinnere, die quälend langsam vergingen, zum Beispiel in der Schule, doch rückblickend frage ich mich, wo all die Jahre hin sind? Es sind mir nicht viele Eindrücke von ihnen geblieben.

Heißt das also möglichst schnell leben? Möglichst viel Erleben? Mitnichten. Es geht tatsächlich nur um Bewusstsein. Bewusste Wahrnehmung der Momente. Das fällt natürlich leichter in spektakulären Landschaften, bei von Natur aus aufregenden Erlebnissen. Außerhalb der Spurrillen. Der Routinen. Der Gewohnheiten. Doch selbst solche Reisen können zum Alltag werden. Ich glaube es geht darum, sich selbst immer wieder zu überraschen und sich vom Leben überraschen zu lassen. Mit Staunen durch die Welt zu wandern. Zeit ist ein seltsames Ding. Sie existiert nur an Massen. Ohne Raum keine Zeit. Abstrakt. Aber sehr nachvollziehbar, wenn ich versuche an die Gegenwart zu denken. In dem Moment ist sie schon wieder vergangen und der Augenblick gehört der Vergangenheit, die nicht mehr existiert, genauso wie die Zukunft nur in meiner Vorstellung existiert. Also gibt es doch gar keine Zeit, außerhalb meiner Vorstellungswelt. Jedenfalls keine, die einen absoluten Wert darstellt. Es ist ein relativer Taumel im Tanz von Werden und Vergehen.

„Meine Kinder interessieren mich nicht mehr für mich. Die denken ich sei durchgeknallt. Am liebsten würden sie mich wohl einweisen lassen. Aber selbst das wäre ihnen zu viel Aufwand für einen alten Sack. Und so nehm ich es wie es ist und mache mein Ding. Ich hab ja jetzt alle Zeit der Welt.“

Das hat er tatsächlich gesagt. Mehrfach. Immer wieder. Diese alte Schrumpelkartoffel nimmt sich tatsächlich heraus, alle Zeit der Welt zu besitzen. Ein seltener Rohstoff. In den Regalen der Normalität steht's als Mangelware angepriesen. Es hieß einmal Zeit ist Geld, aber für Geld kann man keine Zeit bekommen. Man kann anderen die Zeit zwar stehlen, wie die grauen Herren von Michael Ende, die eigene Zeit wird dadurch aber nicht mehr. Doch in allen von uns lebt eine kleine Momo, die genau weiß, wie unbezahlbar die Zeit ist, wie viel Reichtum sie enthält, dass Geld zu dem verblassen lässt was es ist: Ein oft zweckloses Mittel zum Zweck.

Bernhard sagt:

„Die meisten Leute arbeiten das ganze Jahr und machen dann zwei, drei Wochen Urlaub, wo sie übereinander gestapelt und abgefüttert werden, dann geht es wieder weiter mit funktionieren, um ihre teuren Lebensumstände zu finanzieren. Und auch wenn sie viel mehr Geld haben als ich 'armer Rentner', können sie doch viel weniger damit anfangen. Sie haben weder Geld noch Zeit im Überfluss, also sind sie doppelt arm. Ich hab gerade so genug Geld, bin aber stinkreich an Zeit. Das ist mein Luxus. Zeit haben und nicht viel brauchen. Ich kann aufstehen und mich hinlegen wann ich will. Ich kann auf das Meer gucken und ich kann immer ein Schwätzchen halten. Ich hab es erst spät verstanden. Aber ich hab es jetzt verstanden. Und es zählt einfach nur das Jetzt, solange ich noch eines hab.“

Danke Schildkrötenmann. Wir brauchen Leute von deiner Sorte, um unser Leben nicht zu verpassen. Dann kann ein Tag ein ganzes Leben sein. Fragen wir doch nur die Eintagsfliege. Alles ist eine Frage der Betrachtung. Zeit existiert nur an Maßen, hat der Einstein ja gesagt. Also nehmen wir unseren Tag leicht oder schwer? Freie Auswahl, bitte schön: Wählen Sie Jetzt! 

 

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